Wo früher Mitarbeiter Werkzeugmaschinen produziert haben, können Gäste heute essen oder schlafen - im Hotel und Restaurant Heyligenstaedt. In diesem Jahr feiert der Familienbetrieb seinen zehnten Geburtstag. Wenn es nach den Leidners geht, werden noch viele Jahre hinzukommen.
Gießen ist wirklich nicht für ein Übermaß an Extravaganz bekannt. Aber man sollte die Stadt an der Lahn nicht unterschätzen. Wer genau hinschaut, findet besondere Orte. Und wenn es in einem 30 Quadratmeter großen Zimmer in einem Hotel ist, mit einer rosa Tapete mit Blumenmuster und einer Badewanne in der Mitte des Raumes. Dieses Ambiente ist umso auffälliger, wenn man bedenkt, dass dort früher Werkzeugmaschinen hergestellt wurden. In diesem Jahr feiert das Heyligenstaedt zehnjähriges Bestehen. Für Bettina Leidner, die mit ihrem Ehemann Markus das Hotel betreibt, ist damit noch lange nicht Ende der Fahnenstange: Sie planen die Erweiterung des Hotels auf vielfältigen Ebenen.
Ein ganz normaler Vormittag im Heyligenstaedt am Aulweg: Eine Hochzeitsgesellschaft zieht gerade ins Restaurant ein; die Braut strahlt mit ihrem umwerfenden, weißen Kleid um die Wette. Bettina Leidner blickt auf und lächelt, als sie das sieht - obwohl sie gerade in ein kleines Projekt vertieft ist. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Hotels am 1. September soll eine Zeitschrift mit Wissenswertem über das Heyligenstaedt erscheinen - mit alten Fotos.
Die Zeit rennt. Und vielleicht müssen sich die Leidners manchmal kneifen, um zu realisieren, dass sie bereits so lange gemeinsam ihr Unternehmen führen. Damals, erzählt Bettina Leidner, hätten sie zufällig den Unternehmer Wolfgang Lust kennengelernt - und von seinen Plänen erfahren, auf dem Industriegelände Bürogebäude zu schaffen. »Bitte nicht«, sagt Bettina Leidner noch heute und schmunzelt. »Wir wollten ein tolles Restaurant, ein schönes Hotel aufbauen. Vor zehn Jahren gab es großen Bedarf dafür.«
Gießen ist eine internationale Stadt. Zum einen wegen den Hochschulen, der Justus-Liebig-Universität und der Technischen Hochschule Mittelhessen. Hinzu kommen Firmen in Stadt und Kreis, die zum Teil weltweit agieren. »In der Region«, sagt Leidner, »steckt so viel Gutes«. Manchmal, wenn sie sich mit ihren Gästen und den Geschäftsführern von heimischen Unternehmen über deren Arbeit unterhalte, fällt ihr oft nur ein Wort ein, sagt sie: »Wow!«
Während ihr Ehemann Markus als Chef de Cuisine im Restaurant Carpaccio vom australischen Wagyu oder Maibockrücken zubereitet, hat Leidner ein Auge auf das Hotel. Früher bei der Anneröder Mühle beschäftigt, führte sie ihr beruflicher Weg erst nach Wiesbaden, dann in zwei 5-Sterne-Hotels nach Genf und Los Angeles - und dann zurück nach Gießen. Hier führt sie das Boutique-Hotel mit 20 Zimmern, davon eine Suite, drei Einzel- und ein Familienzimmer mit Verbindungstür. Zudem gibt es auf der Dachterrasse einen Wellnessbereich mit Sauna.
In Hotel und Restaurant sind 40 Mitarbeiter und Aushilfen angestellt. »Wir wachsen jedes Jahr«, sagt Leidner. Hier arbeiten Rezeptionisten, Zimmerdamen, Hotelfachmänner, Restaurantfachkräfte und Köche. Seit kurzem ist es im Heyligenstaedt auch möglich, sich im Rahmen eines Dualen Studiums im Eventmanagementbereich ausbilden zu lassen.
Ob Hotel und Gastronomie gut funktionieren, sagt Leidner, stehe und falle mit dem Team dahinter. Viele Mitarbeitende des Heyligenstaedt würden schon viele Jahre dort tätig sein, sagt sie. Dabei sei es in der Gastrobranche oft so, dass Angestellte nach eineinhalb Jahren den Arbeitgeber wechseln. Ein Grund: »Jeder, der will, kann sich hier entwickeln.« Als Beispiel nennt sie Julia Eisenreich. Nachdem diese bei Heyligenstaedt im Bereich Buchhaltung und Marketing begonnen hatte, »haben wir gemerkt, dass ihre Passion woanders liegt«: Bei der Organisation von Hochzeiten. So sei die Idee geboren, dass Eisenreich die Veranstaltungsabteilung leiten könnte, die Hochzeitspaare aus ganz Hessen und Tagungen betreut.
Wenn man mit Leidner spricht, spürt man Aufbruchstimmung. Und das hat einen einfachen Grund: Sie erzählt, die Neueröffnung vor zehn Jahren sei kräftezehrend gewesen. Alleine der Umbau des denkmalgeschützten Gebäudes und das Investitionsvolumen von rund sieben Millionen Euro müssten erstmal gestemmt werden. Dann muss ein solches Hotel, das seine Fühler auch ins Rhein-Main-Gebiet ausstrecken will, zuerst einmal bekannt werden. Heute steht das Heyligenstaedt unter anderem im Michelin-Führer. »Nun sind wir endlich da, wo wir sein wollten«, sagt Leidner. Daran ändern konnte auch der Wasserschaden im Restaurant in 2015 nichts, wegen dem Küche und Veranstaltungsbereich monatelang geschlossen werden mussten.
Leidner bezeichnet das Heyligenstaedt als »familiär, boutique und unique« und betont: »Wir wollen keiner Kette angehören.« Und das wollten die Stammgäste auch nicht, deren Bedürfnisse den Mitarbeitenden bekannt seien. So bekomme ein Gast zum Beispiel immer ein spezielles Nackenkissen aufs Zimmer gelegt, bevor er eincheckt.
Aber familiär muss nicht klein bedeuten: Das Hotel soll um 40 weitere Zimmer und einen größeren Frühstücks- und Wellnessbereich erweitert werden. Das Gebäude, erzählt Lindner, soll auf dem Industriegelände in Holzbauweise entstehen und 2024/25 fertig sein. Nach zehn Jahren kann es also so richtig losgehen für die Leidners. Und es wirkt so, als könnten sie es kaum erwarten.